
Es ist jetzt ungefähr 18 Monate her, da lehrte uns Covid etwas Neues oder Ungewohntes: Abstand halten. Neben Masken-tragen und Hände-desinfizieren war die Distanz zu anderen Menschen ein wichtiges Mittel zur Eindämmung der Pandemie: Man blieb ca. 1,50 Meter vor der anderen Person stehen, verzichtete auf Umarmungen oder Küsschen zur Begrüßung und erfand neue Rituale, wenn man einem anderen Menschen begegnete: So verbeugte ich mich beispielsweise vor dem*der Anderen und legte dabei eine Hand aufs Herz. Andere falteten die Hände vor der Brust und deuteten eine Verbeugung an. Auf Gehsteigen und in Fußgängerzonen machte man kleine Kurven und Umwege, wenn jemand anderes den Weg kreuzte. Und ich genoss – wenn Sie denn geöffnet waren – die Restaurants, in denen man weiter auseinander saß und es irgendwie viel ruhiger war (Ich weiß: Für die Restaurantbesitzer war das furchtbar.) Im Frühsommer dieses Jahres, als Corona mal kurz Pause machte und die Inzidenzwerte niedrig waren, kehrte die Nähe wieder zurück. Im Freundes- und Familienkreis, auf den Plätzen und manchmal auch schon in den Restaurants. Und ich frage mich: Will ich das? Und grundsätzlicher: Kehren wir „nach“ Covid auch was Nähe und Distanz betrifft wieder zurück in die Normalität 1.0? Ich habe angefangen, die Distanz zu schätzen. Ich fand es durchaus befreiend, dem gesellschaftlichen Ritual des Umarmens und Schulterklopfens zu entkommen. Ich finde es sehr hilfreich und angenehm, ungefähr anderthalb Meter vor einem Menschen stehen zu bleiben und die ganze Person zu sehen, ihre Haltung und ihre Präsenz. Ich werde nicht „blind vor Nähe“, sondern sehe den vollständigen Menschen. Mein Blick weitet sich dadurch. Ich habe dieser Tage den Begriff „Respektabstand“ gelesen. Er kommt wohl aus der Bauplanung. Und ich finde ihn sehr anregend. Denn ich kann meine Wertschätzung natürlich durch Nähe zeigen und meinen Respekt durch Abstand.
Und ich wünsche mir auch in anderen Bereich mehr Abstand: Mögen (populistische) Politiker*innen mehr Abstand zu ihren Ideologien finden! Mögen Religionsvertreter*innen mehr Abstand zu ihren Glaubenssätzen entwickeln! Mögen wir, wenn wir vor Problemen stehen, einen (oder mehrere) Schritt(e) zurücktreten – vielleicht sehen wir dann auch die Lösungen. Wie heißt es: „Manchmal sieht man den Wald vor lauter Bäumen nicht.“ Wer eine Situation verstehen oder einen kühlen Kopf bewahren will, braucht die (kritische) Distanz. Während der Covid-Zwangspause habe ich gelernt, einen Abstand zu meinen Zielen zu nehmen und zu schauen, was passiert. Ich habe erfahren, wie hilfreich es ist, Abstand zum Alltagsgeschäft zu haben – so entstanden Ideen und Kreativität. Ich spürte: Abstand zu manchen Gefühlen macht das Leben leichter. Also: Mehr Abstand bitte! PS: Keine Angst: Ich werde jetzt kein unnahbarer Mensch. Ich werde weiterhin berühren und mich berühren lassen – von Menschen, Ideen und anderem mehr. (Hubert Klingenberger)